(ots) - Gewiss, in der Sache hat das Folgende keine
Parallele zum NSU-Prozess und dem Konflikt um die Presseplätze. Es
geht hier allein darum, welche Kritik und welche Einmischung sich wer
gegenüber einem Gericht erlaubt. Es geht um Scheinheiligkeit und
Überheblichkeit. Gehen wir zurück ins Jahr 2007. Damals saß Marco W.
aus Uelzen in der Türkei in Untersuchungshaft. Er stand unter
Verdacht, ein 13-jähriges englisches Mädchen während des Urlaubs
sexuell missbraucht zu haben. Seitens deutscher Politiker und Medien
schlug ihm viel Mitgefühl entgegen. Außenminister Steinmeier
verlangte von seinem türkischen Kollegen, Marco W. freizulassen; die
Vorwürfe würden in Deutschland geprüft werden. Der rechtspolitische
Sprecher der Unionsfraktion, Jürgen Gehb, sah einen Beweis, dass die
Türkei »nicht reif« sei für einen EU-Beitritt. Bis in die Spitzen der
EU machte die deutsche Politik ihren Einfluss geltend, um die
türkische Regierung zu etwas zu drängen, das »Anpassung an
europäische Standards« genannt wurde. Und im Kern doch meinte: Die
türkische Regierung solle der türkischen Gerichtsbarkeit gefälligst
eine Anweisung erteilen. Sie tat es schließlich: Marco W. kehrte in
die Bundesrepublik zurück, der Prozess in Antalya fand ohne ihn
statt. Das Gericht sprach ihn am Ende schuldig. In Deutschland wurden
die Ermittlungen mangels Tatverdachts eingestellt. Europäische
Standards, nun lauten sie umgekehrt. Der Deutsche Richterbund ist
verärgert über »populistische Zwischenrufe« an das Münchener Gericht,
sie seien »nicht mehr hinnehmbar«. CSU-Chef Seehofer empört sich über
die Einmischung in die Unabhängigkeit des Gerichts, das sei
Verfassungsbruch. Patrick Kurth von der FDP in Thüringen donnert:
»Die Gewaltenteilung wird in diesem Land verteidigt.« Und Ruprecht
Polenz von der CDU, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, kanzelt
türkische Politiker ab, sie sollten aufhören, am »Rad der Kritik« zu
drehen. Was ist es auch für ein unbilliges Verlangen türkischer
Medien und türkischer Parlamentarier, einen Prozess beobachten zu
wollen, bei dem es - neben weiteren - um acht Morde deutscher
Neonazis an türkischen Migranten geht! Man muss gerechterweise
anfügen: Ein großer Teil der Politiker, bis hinein in die
Bundesregierung, äußert inzwischen Verständnis für die Kritik am
bayerischen Gericht. Häufig jedoch mit einem Beiton, der wiederum nur
mit deutschem Nutzen, nichts mit Prinzipien zu tun hat - sofern sich
um einen »Ansehensverlust«·Deutschlands gesorgt wird. Der Vorsitzende
Münchener Richter Manfred Götzl räumt nun zwar ein, dass einige
Medien später als andere über die Akkreditierung informiert wurden,
jedoch sei es wie es sei. Stellt er sich stur, weil er den Prozess
gar nicht leiten, sondern sich nach einer Entscheidung des
Verfassungsgerichts auswechseln lassen will? Der türkischen Justiz
geht nicht der Ruf voraus, sie sei liberal. Sie ist im Gegenteil
berüchtigt für drakonische Strafen gegen politische Oppositionelle.
Doch richtig ist auch: Internationale Beobachter erfahren dort nicht
solche Hindernisse wie in Bayern. Bei einem Prozess im letzten
September in Istanbul - der Autor kann es bezeugen - wurde einer
Pressedelegation aus Deutschland ein unkomplizierter Zugang zum
Gerichtssaal ermöglicht, trotz sehr kurzfristiger Anmeldung und eines
außerordentlichen Zuschauerandrangs. Bei manchen europäischen
Standards hat eher Deutschland kräftigen Nachholbedarf.
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