(ots) - Ein "guter Junge vom Mainstream" mag Ungarns
Premierminister Viktor Orbán nicht sein; ein Antisemit freilich auch
nicht. Dumm ist nur, dass es ein Drittes nicht gibt. Der industrielle
Massenmord der Nazis ist zum negativen Fixpunkt der Geschichte
geworden, die Erinnerung an ihn zum Kompass für Politik und
Geisteswelt. Das Urteil über den Holocaust ist ein Schibboleth, wie
man es auf Hebräisch nennt: ein ideologisches Scheidewort, das die
Verrückten und die Verbrecher vom "Mainstream" trennt. In seinem
Grußwort zum Jüdischen Weltkongress hat Orbán jetzt zwar klare Worte
gesprochen, aber nicht überzeugt. Orbán selbst und seine politischen
Freunde haben sich bislang zwar nicht direkt antisemitisch geäußert
oder betätigt. Aber sie bedienen sich mit ihrem Pathos des
Magyarentums aus einem geistigen Fundus, der tief im Antisemitismus
gründet. Wer über diesem ideologischen Sumpf balanciert, wird früher
oder später von ihm verschlungen. An der Basis von Orbáns
Fidesz-Partei ist der Modder der Geschichte schon angekommen. Lange
hatte Orbán ein klares Bekenntnis vermieden. Für seine konservative
Revolution benötigt er dieselben Stimmungen, aus denen auch der
Antisemitismus schöpft; neu erfinden wird er Ungarns "nationale
Werte" nicht. Weil er das weiß, versucht er Konfrontationen
auszuweichen, schweigt, wenn die aggressiven Anhänger der
Jobbik-Partei gegen Juden hetzen oder Roma jagen. Für die
rechtsextremen Garden aber ist dieses Schweigen eine Einladung. Sie
müssen nur immer radikaler werden, Orbán und seine Partei
provozieren, stellen, sie zur Parteinahme zwingen - dann dürfen sie
damit rechnen, irgendwann zu ernten, was Fidesz gesät hat. Orbáns
Rede vor dem Jüdischen Weltkongress enthielt auch das vielfach
bemühte "christliche Erbe". Christentum war in der Propaganda seiner
Partei bisher stets Kultur, Geschichte, Identität. Allerdings mit
fatalen Folgen: Die eine Partei erhob das "christliche Ungarn" in den
Verfassungsrang, und die andere ergänzte stumpf: Die Juden gehören
nicht dazu. Und so geht es weiter: Die einen loben den Reichsverweser
Horthy als geschickten Jongleur im Zweiten Weltkrieg, die anderen
schätzen ihn als den Mann, der die Nürnberger Rassegesetze nach
Ungarn brachte. So geben sie einander die Klinke in die Hand.
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