(ots) - Die Türkei erlebt derzeit ihre eigene
"68er-Rebellion". Dieser Meinung ist der Sozialwissenschaftler Serhat
Karakayali. Im Interview mit der Tageszeitung "neues deutschland"
(Donnerstagausgabe) bezeichnet er die derzeitigen Proteste in
Istanbul und anderen türkischen Großstädten als eine "demokratische
Neuerfindung des Landes". Die Bürger seien "nicht mehr Anhängsel des
Staatsapparats". Dies erkläre auch die Heftigkeit der Proteste, die
sich an geplanten Bauprojekten oder strengeren Regeln zum Verkauf von
Alkohol entzündeten. Damit, so der in Duisburg geborene
Wissenschaftler, habe die regierende AKP mit Premierminister Recep
Tayyip Erdogan in die "Vielfalt von Lebensweisen, die sich vor allem
im urbanen Raum entwickelt haben", massiv eingegriffen.
Dass das in der Türkei stets mit viel Macht und Einfluss
ausgestattete Militär in den aktuellen Konflikt eingreifen könnte,
hält Karakayali, der sich in jüngster Zeit in Istanbul aufgehalten
hat, für ausgeschlossen. Erdogan und die AKP hätten das Militär
faktisch entmachtet. Auch das symbolisiere die Dialektik der
augenblicklichen Entwicklung in der Türkei. Erdogan habe mit seiner
Politik zwar einerseits die Gefahr einer konservativ, islamisch
geprägten Einschränkung von persönlichen Freiheiten hervorgerufen,
gleichzeitig aber mit der wirtschaftlichen Liberalisierung und der
Abkehr von der autoritären Staatsdoktrin des Gründers der modernen
Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, die Grundlagen für eine "nachholende
Demokratisierung" der Gesellschaft geschaffen.
Pressekontakt:
neues deutschland
Redaktion
Telefon: 030/2978-1715