PresseKat - Westfalen-Blatt: das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Türkei:

Westfalen-Blatt: das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Türkei:

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(ots) - Die europäischen Außenminister sollten mit der
Türkei ausgerechnet jetzt nicht über Regionalpolitik verhandeln.
Fällig wären stattdessen die Beitrittskapitel »Justiz und
Grundrechte« sowie »Freiheit und Sicherheit«. Das forderten gestern
nicht allein die Menschenrechtler, das verlangt auch jedes gesunde
Grundempfinden für Gerechtigkeit und Demokratie. Seit Wochen gehen
die Menschen in der Türkei massenhaft auf die Straße, weil sie die
Bevormundung durch Islamisten leid sind. Sie fürchten um ihr
Vaterland, das sie auf dem Weg zum Scharia-Staat wähnen.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat in Luxemburg wegen der
Entrüstung in Deutschland, Österreich und den Niederlanden die
Debatte ein wenig verschieben können, mehr aber nicht. Im Herbst wird
nach langer Pause wieder über den EU-Beitritt verhandelt.
Ausgerechnet jetzt? Ja, gerade in dieser Situation. Viele EU-Länder
sind bemüht, die Beitrittsfrage aus dem Feuer der Tagespolitik zu
holen. Das ist konstruktiv und setzt Signale. Mit einem großen Knall
und dem Abbruch der Verhandlungen wäre nichts gewonnen. Im Gegenteil:
Die Demonstranten vom Gezi-Park und in Dutzenden anderen Städten der
Türkei brauchen uns. Sie entwickeln sich soeben zur Avantgarde gegen
die Geister von gestern. Längst zeigen die Proteste Wirkung - nicht
im Sinne einer neuen Partei, wohl aber eines erweiterten
Bewusstseins. Durch Teehäuser, bürgerliche Viertel und Universitäten
weht die Selbsterfahrung: Wir sind ein buntes, ein breites Volk - und
den Islamisten nicht kampflos ausgeliefert. Nie zuvor waren Anhänger
Kemal Atatürks, Kurden, Aleviten, andere liberale Muslime und selbst
Christen gemeinsam durch die Straßen gezogen. Alle eint die Ablehnung
des autoritären Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Sie wollen
neben individueller Freiheit vor allem Gerechtigkeit. Dazu gehört die




für die Führung gefährliche Forderung nach Bestrafung der
Verantwortlichen für brutale Polizeigewalt. Viele wollen Erdogan
selbst vor Gericht sehen. Dazu wird es kaum kommen. Aber erste Risse
tun sich an der Staatsspitze auf. Kenner sagen, Erdogans Plan, 2014
den renitenten Staatspräsidenten Abdullah Gül abzulösen, sei bereits
Makulatur. Damit bliebe Erdogan nur die Option, nach einer
Verfassungsänderung 2015 eine weitere Präsidentschaft anzustreben.
Aber die ist kein Selbstläufer mehr für den Spalter- statt
Versöhner-Typ. Die scheinbar felsenfeste Basis der AKP bröckelt. Ein
kritisches Staatsvolk wächst heran. Es hat Erdogans dunkle Seite zu
sehen und zu spüren bekommen. Diese Erfahrung und die unverändert
offene Tür nach Europa sollten die Türkei vor weiterer Islamisierung
bewahren.



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Andreas Kolesch
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Datum: 25.06.2013 - 20:30 Uhr
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