(ots) - Thüringen schreibt möglicherweise Geschichte. Es
ist gewiss keine revolutionäre. Der gestern vorgestellte
Koalitionsvertrag enthält weder waghalsige Vorhaben noch linke
Experimente, sondern wirkt recht solide - was gewiss auch dem engen
finanziellen Rahmen geschuldet ist. Die angekündigten Reformen
entpuppen sich bei genauerem Hinschauen eher als Reförmchen. Das gilt
auch für die groß angekündigte Gebietsreform mit weniger Kreisen.
Einzig der lobenswerte Versuch, Zensur und Ãœberwachung des Internets
zu verhindern und zugleich netzpolitische Modellprojekte zu fördern,
könnte zukunftsweisend sein. Deshalb stellt sich die Frage, warum die
Sozialdemokraten, deren Handschrift auf dem dunkelrot-rot-grünen
Papier durchaus zu erkennen ist, diese Inhalte nicht mit der Union
Christine Lieberknechts umsetzen wollten? Immerhin hatte der knappe
Wahlausgang der SPD eine Jokerrolle zugewiesen, die bei der CDU auch
zu weitreichenden Zugeständnissen geführt hätte, damit sie nicht
erstmals auf der harten Oppositionsbank Platz nehmen muss. Denn
natürlich ist es nicht normal, was sich im Freistaat jetzt anbahnt.
Ein Blick in die Präambel reicht dafür bereits aus: Dort wird eine
Selbstverständlichkeit - dass die DDR ein Unrechtsstaat war -
hervorgehoben. Fast wäre das neue Dreierbündnis, und das 25 Jahre
nach dem Mauerfall, schon an dieser Feststellung und den damit
verbundenen Wortklaubereien zerbrochen. Mit diesem Zugeständnis der
SED/PDS-Nachfolger - und mehr Ministerposten für SPD und Grüne, als
ihnen rein rechnerisch zustünden - wird voraussichtlich ein Politiker
der Linken zum Regierungschef Thüringens gewählt, auch wenn Bodo
Ramelow ein Realo ist und aus Niedersachsen stammt. Das ist dann
wirklich etwas für spätere Geschichtsbücher. Denn es geht in Erfurt
nicht nur um die Schulpolitik, im Bundesrat kann die Linke künftig
erstmals auch über Außen- und Sicherheitsfragen mitentscheiden. Ein
Tabubruch also - ob die SPD damit einen Test, eine Provokation oder
gar eine Machtoption verbindet, wird sich zeigen. Bislang hat die
Partei von Regierungsbündnissen mit den Linken im Osten stets
profitiert. Doch die Rolle als Juniorpartner der Linken ist neu und
kaum wirklich kalkulierbar. Auch deshalb ist das Versuchslabor
Thüringen alles andere als normal.
Pressekontakt:
Weser-Kurier
Produzierender Chefredakteur
Telefon: +49(0)421 3671 3200
chefredaktion(at)Weser-Kurier.de