(ots) - »Wandel durch Annäherung«: Der Beton in der
Mauer zwischen Ost und West war 1963 gerade ausgehärtet, als Egon
Bahr der deutschen Außenpolitik mit diesem Satz ihr bis heute
wirkmächtigstes Motto gab. Seine damals - wie möglicherweise schon
bald wieder - ungeheuerliche Erkenntnis lautete: Man muss den Status
quo (der deutschen Teilung) anerkennen, um ihn zu verändern. Visionen
hat so mancher große Politiker. Aber nur wenige erleben, wie ihr
Rezept für eine bessere Welt in weniger als einem Jahrzehnt aufgeht,
danach Bestand hat und am Ende langen politischen Wirkens als
aktuelles politisches Vermächtnis neu gefordert ist. Egon Bahrs Tod
in dieser Woche verlangt geradezu nach einer kritischen
Bestandsaufnahme und Neubewertung unserer Außenpolitik gegenüber
Osteuropa und insbesondere in Bezug auf Moskau. Von einem
zielgerichteten deutschen Konzept kann im Jahr 2015 nicht die Rede
sein. Russlands Griff nach der Krim, Kiews Maidan und das, was
ukrainische Politiker daraus machen, treiben den sozialdemokratischen
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ebenso um wie die
Kohl-Schülerin im Bundeskanzleramt. Angela Merkels (CDU) kurzer Draht
zu Wladimir Putin bewirkt kaum etwas angesichts der existenziellen
Sorgen vom Baltikum über Polen bis in den Kaukasus. Die gemeinsame
Sanktionspolitik des Westens und die Absicht der USA, den
Ukraine-Konflikt mit der Lieferung schwerer Waffen zu schüren, ist
das Gegenteil dessen, was uns der Friedenspolitiker Bahr lehrt. Der
Mann, der erst in Berlin Passierscheine und Häftlingsfreikäufe
aushandelte und dann in Moskau, Warschau und Bonn Gewaltverzicht
sowie internationale Vertragssicherheit herstellte, hat kurz vor
seinem Tod eine Antwort auf Putins Expansionspolitik formuliert:
Deutschland soll als politisch und wirtschaftlich stärkster Faktor in
Europa, der militärisch keine Bedrohung darstellt, den ersten Schritt
zur Verhinderung eines neuen Kalten Krieges tun. Bahr riet noch im
Juli in Moskau bei einem Treffen mit Michail Gorbatschow: »Wir
könnten also wie zu Beginn der Entspannungspolitik sondieren und
beginnen, einseitig Sanktionen gegen Russland abzubauen.« Ja, das
seien Vorleistungen, hielt er all denen entgegen, die ihn als
Putin-Versteher abzukanzeln versuchten. Tagespolitische Ränke war
längst nicht mehr sein Ding. Bahr zitierte lieber Willy Brandt mit
einem Satz, den er möglicherweise selbst einmal in das
Redema-nuskript seines Chefs geschrieben hatte: »Manchmal muss man
sein Herz am Anfang über die Hürde werfen.« Egon Bahr hat mit seinem
plötzlichen Herztod Deutschland eine brandaktuelle Wegweisung
hinterlassen, die nötiger denn je sein könnte. Die in diesen Tagen
vielen Nachrufe auf ihn dürften, völlig unüblich, beträchtliche
Nachwirkungen haben.
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Westfalen-Blatt
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Andreas Kolesch
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