(ots) - Wenn am Sonntag in drei Bindestrich-Ländern noch
Stimmen gezählt werden, soll Fernsehdeutschland schon Antworten auf
die eine, alles überstrahlende Frage vorgesetzt bekommen: »Abrechnung
mit Merkels Flüchtlingspolitik?« Was die ARD in ihrem Talk da zum
Thema macht, hat in den vergangenen Wochen, nein: Monaten die mediale
Landschaft dominiert. Dass die Abstimmung über die Besetzung der
Landtage in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zu
einer Art Referendum über den Asylkurs der Bundesregierung stilisiert
wird, ist allerdings ein Problem. Ein großes sogar. Die demokratische
Entscheidung des Sonntags wird erstens von der politischen Substanz
abgetrennt, um die es in Wahrheit geht: Asylpolitik wird nicht auf
Landesebene gemacht, dort stehen Fragen zur Entscheidung an, um die
es in den letzten Wochen praktisch nur am Rande ging. Bildung?
Öffentliche Gesundheits- und Pflegeinfrastruktur? Naturschutz?
Kulturförderung? Weitgehend Fehlanzeige. Eine Medienanalyse hat das
jetzt eindrucksvoll auf den Punkt gebracht: Seit Jahresbeginn machten
die meisten Spitzenkandidaten vor allem mit Äußerungen zur
Asylpolitik Schlagzeilen oder mit gegenseitigen, parteipolitischen
Vorhaltungen darüber. Nicht einmal die sonst beliebten Farbenspiele -
wer kann mit wem und warum nicht? - warfen dieses Mal so große
Schatten auf die eigentlichen politischen Fragen. Das lag nicht
zuletzt am Aufstieg der Rechtsaußen-Partei AfD - deren Umfragewerte
allerdings auch von der starken thematischen Verengung im Wahlkampf
profitieren konnten. Das mit aggressiver, ausländerfeindlicher
Rhetorik aufgeladene »Anti« der Petry-Truppe hätte weit weniger
Aussicht auf Erfolg gehabt, wäre es in der Diskussion mehr um echte,
landespolitische Alternativen gegangen. Zugleich spiegelt sich im
absehbaren Durchmarsch der AfD auch eine gefährliche Enttäuschung
über »die Politik«, die sich mehr um sich selbst als um die Belange
»der einfachen Leute« drehe. Die inhaltliche Einseitigkeit des
»Wahlkampfes« vor den drei Abstimmungen am Sonntag wird diesen Effekt
noch verstärkt haben. Die Zahl derer, die kurz vorher noch immer
damit hadern, überhaupt ins Wahllokal zu gehen, ist dafür ein
zweites, starkes Indiz. Man muss darüber hinaus kein Hellseher sein,
um mit einer schwachen Beteiligung zu rechnen. Die demokratische
Legitimation der neu zu bestimmenden Landesparlamente wird schwach,
die Regierungsbildung von bundespolitischen Prägungen dominiert sein
und den Trend zu »großen« Koalitionen verstärken, die zur
staatstragenden Verwaltung eines schlechten Status quo neigen, aber
bessere Alternativen blockieren. Warum diese nötig sind, bedarf
keiner langen Vorrede. 2015 war ein Jahr der Zeitenwende - gestartet
in einen griechischen Frühling, der im Herbst des
deutsch-orchestrierten Austeritätsblocks erstarrte. Ein Jahr, das
schließlich in einem Winter des europäischen Rechtsrucks aus
Nationalismus, Hetze gegen Flüchtlinge und autoritärer
EU-Festungspolitik zu Ende ging - wer genau hinschaute, konnte
immerhin kleine Wärmeinseln der Menschlichkeit und Solidarität
entdecken. Und 2016 ging es so fort. Was da europäisch, weltweit und
hierzulande geschehen ist, wird auf längere Sicht erhebliche
Auswirkungen auf die Politik haben. Was daraus gemacht wird, ist eine
Frage von Mehrheiten - in Parlamenten und in der Gesellschaft. Und
weil das so ist, ginge es an diesem Sonntag dann tatsächlich nicht
nur um Landespolitik. Die Abstimmung wird auch ein Steinchen zum
großen Puzzle beitragen, dessen Aussehen darüber mitentscheidet, ob
Europa weiter nach rechts abkippt, ob extrem autoritäre
Politikmuster, Klassenspaltung und Sozialisierung ökonomischer
Krisenkosten zur »Normalität« werden, oder ob endlich durch
drastische Umverteilung von Oben nach Unten die Basis für eine
gestaltbare Gesellschaft erneuert werden kann, in der dann auch die
Politik in Mainz, Stuttgart oder Magdeburg sich nicht auf die Wahl zu
beschränken hat, wo viel und wo noch mehr gekürzt wird. Übrigens:
»Abrechnung über Gabriels und Merkels Steuer- und Sozialpolitik?«
wurde schon sehr lange keine ARD-Talkshow mehr betitelt. Wurde es
überhaupt je einmal? Das Große im Kleinen? Dass Politik auf
Landesebene weniger Spielraum hat als im Bund, ist so sehr eine
Binsenweisheit, wie es sich dann eben doch immer wieder gezeigt hat,
dass es einen Unterschied macht, wer in einer Staatskanzlei sitzt.
Wahlen ändern etwas. So oder so. In welche Richtung, das hängt auch
davon ab, die Entscheidung darüber nicht anderen zu überlassen.
Pressekontakt:
neues deutschland
Redaktion
Telefon: 030/2978-1722